In England hinter Gittern: Meta Brunner - 4. September 2020

Während des Ersten Weltkriegs verbrachte eine junge Zürcherin vier Jahre ohne Gerichtsurteil in einem englischen Gefängnis. Meta Brunner wurde erst am 5. Juli 1919 entlassen und in die Schweiz abgeschoben – ein halbes Jahr nach dem Waffenstillstand an der Westfront und eine Woche, nachdem Deutschland den Friedensvertrag im Spiegelsaal von Versailles unterschrieben hatte. Sie war interniert worden, weil die britische Polizei sie verdächtigte, als Briefträgerin für den aktiven indischen Antikolonialisten Virendranath «Chatto» Chattopadhyaya und seine deutschen Verbündeten zu dienen. Deshalb taucht ihr Name auch in den Untersuchungsakten zum Zürcher Bombenprozess auf.


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Ansicht des Royal Marine Hotels in Eastbourne, GB.

Ohne Gerichtsverfahren

Ihre letzte Postkarte schickte Meta Brunner am 29. Juni 1915 an ihre Mutter in Zürich. Sie beabsichtige, schrieb sie aus dem Royal Marine Hotel im englischen Eastbourne, “in einigen Wochen in die Schweiz zu gehen”. Dazu kam es nicht. Die als Sprachlehrerin für eine Familie tätige junge Frau wurde am 19. Juli verhaftet und ohne Gerichtsverfahren, auf der Grundlage des Defence of Realm Act, am 4. August 1915 offiziell im Aylesbury Camp for Women, Aylesbury, Bucks interniert.


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Der Eingang zum Gefängnis in Aylesbury kurz nach seiner Eröffnung 1847.

Brunner, geboren am 1. Januar 1886, war zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung 29 Jahre alt. Vorher hatte sie längere Zeit in Deutschland zugebracht und offenbar mehrfach Briefe von Chatto an dessen in England verbliebenen Freunde transportiert. Dies jedenfalls behauptet Chatto in seiner Rechtfertigungsschrift zuhanden des Schweizer Bundesanwalts, nachdem er am 19. November 1915 in Zürich verhaftet worden war. Eine von Brunners Kontaktpersonen in England war die Deutsche Anny Brand, die Lebenspartnerin eines in England verbliebenen antikolonialistischen Inders. In diesem Kreis verkehrte auch Hilda Howsin, die im April 1915 mit Chatto in Lausanne zusammentraf und einige Wochen später, zurück in England, ebenfalls interniert wurde.

Abgeblockte Kontakte

Mehrere Familienmitglieder bemühten sich um die Freilassung Brunners aus der englischen Internierung oder doch zumindest um einen Kontakt zu ihr. Ihre Mutter (ihr Vater Adolf Brunner, Apotheker, war 1907 verstorben) bedankt sich am 12. Dezember 1915 in einem Brief an das Eidgenössische Politische Departement EPD, das Aussenministerium in Bern, für die Vermittlung der Adresse ihrer Tochter und bittet die Behörde, sich bei den zuständigen englischen Stellen für deren Heimkehr einzusetzen. Für ein knappes halbes Jahr war die Familie im Ungewissen geblieben, was mit Meta los sei. Ihre Schwester Marie, welche unter dem Künstlernamen Blanche LeRoy als Schauspielerin in Londoner Theatern arbeitete, konnte am 30. Dezember 1915 offenbar unter strenger Aufsicht mit Meta sprechen. Dem Dossier aus den Beständen des EPD ist zu entnehmen, dass die Korrespondenz von der Gefängnisaufsicht sehr oft nicht weitergeleitet wurde. Viele Briefe aus dem oder ins Gefängnis wurden zurückbehalten und die Adressaten darüber im Ungewissen gelassen.

Die Mutter und neun ihrer Kinder – darunter Meta – waren während des Krieges in eine rechtliche Auseinandersetzung mit dem ältesten Sohn respektive Bruder verwickelt. Otto Brunner (1877-1941) führte die Paradiesvogelapotheke des Vaters in Zürich weiter und stritt sich offenbar mit den restlichen Familienangehörigen um Fragen zum Erbe. Brunner, der später für die Freisinnigen im Grossen Stadtrat von Zürich sitzen sollte, war während des Krieges Hauptmann einer Maschinengewehr-Kompanie der Infanterie. Erwin Briess behauptet in der Untersuchung zum Bombenprozess, Brunner in Uniform und in Begleitung von deutschen Konsularbeamten durch Zürich spazieren gesehen zu haben.

Auswanderung

Meta wurde am 5. Juli 1919 aus der Haft entlassen und nach den Niederlanden ausgeschafft. Dort wurde sie mit einem Flüchtlingspass des Roten Kreuzes ausgestattet und konnte so in die Schweiz reisen. Wenig später wanderte sie nach Deutschland aus. Sie liess sich am 7. Juni 1920 in Emmerich im Rheinland, nahe der niederländischen Grenze, nieder und nahm eine Stelle bei der dortigen Firma C.F. Maares an. Zwei Jahre später heiratete sie den Firmeninhaber Carl Friedrich Maares, den sie vermutlich bereits vor dem Krieg kennen gelernt hatte.

Maares war ebenfalls während des Krieges in England interniert und im Mai 1919 entlassen worden. Die Engländer, so beklagte sich Meta Maares-Brunner später, hätten damals sein ganzes, in 20-jähriger Arbeit erworbenes Vermögen konfisziert. Dies hielt ihn aber nicht davon ab, “geschäftlich englisch orientiert” zu sein und die Vertretung für eine englische Akkumulatorenfabrik zu führen, zuerst von Emmerich und ab 1929 von Amsterdam aus. Während des Zweiten Weltkrieges wurde er – so stellt es Maares-Brunner dar – von den Nazis in den Tod getrieben.

Exkurs in die Literatur

Der englische Schriftsteller William Somerset Maugham lebte zwischen Oktober 1915 und Mai 1916 in Genf. Im Februar 1916 unterbrach er diesen Aufenthalt wegen den Proben zu seinem neuen Theaterstück Caroline in London. Somerset Maughams Zeit in Genf war als Rückzug zum Schreiben getarnt, tatsächlich diente er dem britischen Geheimdienst als Verbindungsmann. Ob seine Aufgaben eher die Weiterleitung von Spionageberichten aus Deutschland oder aber die Überwachung der indischen Revolutionäre in der Schweiz betrafen, ist unklar. Rekrutiert worden war er offenbar von Major John Wallinger, einem Veteran des britisch-indischen Department of Criminal Intelligence DCI, der aber während des Krieges eher für die Geheimdienstabteilung des britischen Generalstabs arbeitete, mithin also primär militärische Informationen sammelte.


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Der Umschlag der deutschen Taschenbuch-Ausgabe.

Für uns interessant ist die Kurzgeschichte Giulia Lazzari, die Somerset Maugham 1927 in der Sammlung Ashenden: Or the British Agent veröffentlichte. Die Figur des Inders Chandra Lal geht auf Chatto sowie in Teilen auch auf Har Dayal zurück. Die Protagonistin Giulia Lazzari ist in ihren Äusserlichkeiten – Tänzerin, Lebedame – der Mata Hari nachempfunden. Der Kern der Geschichte besteht darin, dass die Briten Lazzari als Köder einsetzen, um Chandra Lal über die Grenze nach Frankreich zu locken und ihn dort zu verhaften. Sie zwingen Lazzari, eine Lockbrief an den in sie verliebten Chandra Lal zu schreiben, damit dieser seine Vorsicht ablege und aus Berlin nach Lausanne und von da über den See ins französische Thonon komme. Einen solchen Lockbrief hat Meta Brunner laut Chatto Anfang November 1915 – notwendigerweise aus dem Gefängnis – an ihn geschickt: Sie könne nach Paris kommen, er solle sie dort abholen. “Das war mir verdächtig, weil die Brunner ganz genau weiss, dass ich nicht nach Frankreich gehen kann.” Bei Somerset Maugham ist aus dem zagen Versuch eine vollendete Intrige geworden.

Quellen

  • Bundesarchiv Bern: Dossiers Meta Brunner, Meta Maares-Brunner, Viendranath Chattopadhyaya, Zürcher Bombenprozess.
  • Stadtarchiv Emmerich D, Einwohnermeldekarte.

Literatur

  • Somerset Maugham, William. Ashenden, oder Der britische Geheimagent. Erzählungen, Zürich, 1972.
  • Hastings, Selina. The Secret Lives of Somerset Maugham. London, 2009.
  • Popplewell, Richard J. Intelligence and Imperial Defence: British Intelligence and the Defence of the Indian Empire 1904–1924., Abingdon, 1995.