Der mysteriöse Dr. Abdul Hafiz - 31. Juli 2021

Einer der beiden im Zürcher Bombenprozess vom Juni 1919 in Abwesenheit verurteilten Inder ist Dr. Abdul Hafiz. Das Gericht kam in seinem Urteil vom 13. Juni 1919 zum Schluss, dass er gegen die Sprengstoff-Gesetzgebung verstossen habe, und verurteilte ihn zur höchsten in diesem Prozess ausgesprochenen Strafe, nämlich zu vier Jahren Zuchthaus und zu CHF 2’000 Busse. Wer ist dieser Abdul Hafiz? Im Gegensatz zu seinem Kollegen Virendranath «Chatto» Chattopadhyaya gibt es über ihn kaum Sekundärliteratur, und die Quellen sind ebenfalls sehr dünn. Hafiz bleibt also als schattenhafte Figur nur in Umrissen greifbar.

Geburt und Herkunft

Schon seine Herkunft ist nicht ganz geklärt. Geboren je nach Quelle 1884, 1886 oder 1887, gab er seinen Geburtsort zuerst mit Hoshiarpur, Punjab, Indien an, um ihn dann später auf Sherpur, Afghanistan zu ändern. In den Promotionsakten der Uni Leipzig ist die Angabe «Sherpur (Afghanistan)» mit dem ausdrücklichen Vermerk versehen, Hafiz gebe an, nicht wie in der Leipziger Exmatrikel vermerkt in Hoshiarpur geboren zu sein. Für die Uni Leipzig galt er deshalb zuvor als britischer Staatsangehöriger, während er später, während des Krieges, seine Staatsangehörigkeit mit «Afghaner» angab. Die Studentenkarte der Universität Birmingham, wo er vor Leipzig studiert hatte, hat sich nicht erhalten.

Auch über seine Sprachkompetenzen kursieren unterschiedliche Angaben. Ab 1904 besuchte er die Universität Birmingham, wo 1908 seine auf Englisch verfasste Masterarbeit in Bergbau angenommen wurde. Von 1910 bis 1913 studierte er an der Universität Leipzig und schloss mit einer Dissertation in Chemie auf Deutsch ab. Weitere Dokumente besagen, er spreche Englisch, Deutsch, verschiedene nordindische Sprachen sowie Paschtunisch und Persisch – die Sprache des afghanischen Königshofes. Der deutsche Konsul in Neapel beklagte sich aber Anfang Januar 1915 beim Auswärtigen Amt, dass Hafis, der auf dem Weg von Chicago nach Berlin in Neapel anlandete, kein Wort deutsch spreche. Letzteres scheint näher an der Wahrheit: Die Professoren, welche ihm am 15. Juli 1913 die mündlichen Prüfungen abnahmen, notierten, Hafiz habe «mit grossen Sprachschwierigkeiten zu kämpfen» gehabt.

Im Dienste Kabuls?

Muhammad Yusuf-Mohsin, der ehemalige Generaldirektor der pakistanischen Waffenfabrik POF, bezeugt in der einzigen auffindbaren Kurzbiografie eine besondere Nähe von Abdul Hafiz zum Hof des Emirs von Kabul. Er habe seine Dissertation an der Universität Birmingham im Namen des afghanischen Emirs Habibullah (1872-1919) abgegeben, worauf ihm die Universität den Doktorgrad verweigert habe.

Ob Legende oder nicht, diese Geschichte deckt sich mit Informationen aus deutschen Quellen, wonach Hafiz um 1907 – also noch während seines Studiums in Birmingham – in den Dienst des Emirs von Afghanistan getreten sein soll. Freilich verlegt diese Quelle das Ereignis nach Deutschland. Weiter berichten deutsche Quellen, er sei kurz vor Kriegsausbruch vom afghanischen Erbprinzen – es muss sich um Nasrullah, den Bruder von Emir Habibullah handeln, der bekannt war als «extrem anti-britisch» – schriftlich zur Übernahme einer Professur an der erweiterten Universität Kabul eingeladen worden, habe diese aber wegen des Kriegsausbruchs nicht antreten können. Zudem sei er befreundet mit Kadir Bachsch (Qader Baksh), der als Abgesandter des Emirs für einige Zeit in Deutschland geweilt habe.

Vor der Abreise der Niedermayer-Hentig- Mission aus Istanbul Richtung Afghanistan bat Hafiz am 27. April 1915 den Expeditionsleiter Werner Otto von Hentig telegrafisch, er solle den ihm übergebenen Privatbrief dem afghanischen Emir Abdul Rahmann persönlich aushändigen. Eine bemerkenswerte Anweisung, war doch Abdur Rahman bereits am 1. Oktober 1901 gestorben und von seinem Sohn Habibullah beerbt worden.

Als sich abzeichnete, dass die Niedermayer-Hentig-Mission in Kabul ihr Ziel verfehlte, lancierte das Indian Independence Committee in Berlin im Februar 1916 die Idee, eine zweite Mission auf den Spuren der ersten loszuschicken, an der Abdul Hafiz hätte teilnehmen sollen. Dieser reiste darauf mehrfach nach Istanbul und möglicherweise auch nach Bagdad. Freilich wiesen alle Informationen sowohl der deutschen wie der türkischen Generalstäbe darauf hin, dass eine Durchquerung Persiens inzwischen unmöglich geworden sei.

Nach einigem Hin und Her wurden die Vorbereitungen zur zweiten Mission im April 1916 abgebrochen, nicht ohne Unstimmigkeiten zwischen Generalfeldmarschall Colmar von der Goltz, dem deutschen Oberkommandierenden der 6. Osmanischen Armee in Bagdad, und dem Auswärtigen Amt in Berlin hervorzurufen. In diesem Kontext wurde Hafiz zum ersten Mal als «zuverlässiger afghanischer Regierungsbeamter» bezeichnet, eine zumindest sehr fragliche Aussage.

Chemiker

Hafiz’ erste Studien in Birmingham galten dem Bergbau und der Metallurgie. Das zweite Studium in Leipzig widmete er der Chemie – allerdings der Elektrolyse, er blieb also nahe an der Gewinnung von Metallen. Nach dem Studium verliess er Deutschland. Bei Kriegsausbruch im Sommer 1914 arbeitete er für den Heilmittelhersteller Abbot Alcaloidal Co. in Chicago. In Kontrast dazu besagen deutsche Quellen, er sei vom Emir von Afghanistan in die USA geschickt worden «zum weiteren Studium der Sprengstoffe».

Im November 1914 wird er aus Chicago nach Berlin gerufen, wo er Anfang Januar 1915 eintrifft. Hier will er gezielt die Produktion von rauchfreiem Schiesspulver erlernen – dessen Anwendung macht z.B. den Briten in Gallipoli grossen Kummer, weil sie die Lokalisierung von Geschützen massiv erschwert. Unterbrochen von vielen Auslandreisen widmet er sich bis etwa Juni 1916 dieser Ausbildung, danach laufen seine Bitten um Fortsetzung bei den zuständigen deutschen Stellen ins Leere.

Der Hinweis von Yusuf-Mohsin, wonach Hafiz gegen Kriegsende in Österreich für die Munitionsversorgung zuständig gewesen und zu diesem Zweck zum Hauptmann ernannt worden sei, lässt sich nicht verifizieren. Die ebenfalls erwähnte Anstellung als Chefchemiker in einer Munitionsfabrik in Wien klingt angesichts seines weiteren Werdegangs plausibel, lässt sich aber ebenfalls nicht festnageln.

Bomben im Gepäck

Erwin Briess erzählt dem Untersuchungsrichter Otto Heusser, er habe Abdul Hafiz im Frühjahr 1915 in Zürich durch Chatto kennen gelernt. Über Hafiz wiederum sei er in Kontakt gekommen mit italienischen Anarchisten in Zürich. Gemeinsam habe man über die Beseitigung von italienischen Politikern gesprochen – Italien tritt am 23. Mai 1915 auf Seiten der Entente in den Krieg ein. Die Anarchisten hätten sich beklagt, nicht über ausreichende Mittel für derartige Vorhaben zu verfügen.

Briess berichtet, rund 14 Tage nach dieser Unterhaltung sei Hafiz plötzlich abgereist und nochmals 14 Tage später wieder nach Zürich zurückgekehrt, um unvermittelt mit Briess zusammen in der Gepäckausgabe des Hauptbahnhofs schwere Kisten abzuholen, die via die deutsche Gesandtschaft in Bern geliefert worden seien. Deren Inhalt habe sich Briess erst in seinem Büro an der Lintheschergasse 10 eröffnet, wo sie zwischengelagert wurden: Sprengstoffe und Handgranaten. Ker nennt als Datum dieses Vorgangs den 22. Juli 1915.

Nach und nach wurden die Materialien von Briess’ Büro in die Wohnung von Hafiz transferiert, um später dort an den italienischen Anarchisten Arcangelo Cavadini übergeben zu werden. Sobald dies abgeschlossen gewesen sei, berichtet Briess, sei Hafiz ganz nervös gewesen und sofort abgereist, wobei Briess ihn noch bis Winterthur habe begleiten müssen.

Verzögerte Abreise

Hafiz meldet über den deutschen Generalkonsul in Zürich am 24. August 1915 an das Indian Independence Committee in Berlin, er werde bald zurückreisen. Am 7. September ist er aber noch immer in Zürich (wo er auch eine Geliebte hat). Am 15. September bittet das Auswärtige Amt die Botschaft in Bern, dem Hafiz zur Kenntnis zu bringen, dass er offenbar von den Engländern überwacht werde. Ende September ist er in Berlin, am 13. Oktober 1915 aber wieder zurück in Zürich, wo er sich am 22. Januar 1916 noch (oder wieder) aufhält, um von dort Mitte Februar nach Istanbul weiter zu reisen.

Spätestens ab diesem Zeitpunkt verliert ihn Briess aus den Augen. Dem Untersuchungsrichter erzählt er, er habe angenommen, Hafiz sei nach Afghanistan gereist, um dort eine Bombenfabrik zu bauen. Allerdings will er im Herbst 1917 vernommen haben, Hafiz sei im Berliner Nobelhotel «Fürstenhof» in Begleitung deutscher Offiziere gesehen worden. Er löst im Verhör diesen Widerspruch nicht auf.

Hafiz’ Kollege Chatto wurde im Dezember 1915 aus der Schweiz ausgewiesen. Von Hafiz selber ist kein ähnlicher Vorgang überliefert, trotzdem taucht er in der Schweiz nach dem Januar 1916 nicht mehr auf. Nachdem ruchbar wurde, dass Hafiz offenbar von den Engländern überwacht werde, fiel der Verdacht der deutschen Behörden spätestens im Januar 1916 auf Briess.

Propaganda

Die Lieferung von Bomben in die Schweiz war offenbar von der militärischen, nicht von der zivilen Führung Deutschlands organisiert und koordiniert. Ein interimistischer Leiter des deutschen Generalkonsulats in Zürich, Horst P. Falcke, beklagt sich am 20. Oktober 1918 in einer etwas gewundenen Formulierung zuhanden des Reichskanzlers Prinz Max von Baden: «Alles in allem ist die Tätigkeit der Zürcher Behörde [d.i. des Generalkonsulats] offenbar durch Einwirkungen von militärischer Seite seit Jahren systematisch in einer Weise beeinflusst, die m.W. mit den Aufgaben der Kaiserlichen Konsulate nicht in Einklang zu bringen ist, den mir bekannten Vorschriften für den auswärtigen Dienst, insbesondere auch den für Kriegszeiten erlassenen, direkt widerspricht und uns der Gefahr der Verhasstheit wie der Missachtung auch im neutralen Auslande aussetzt.»

Hafiz hatte offenbar zwei Auftraggeber. Neben der Organisation eines Mordkomplotts gegen italienische Politiker im Auftrag des deutschen Generalstabs war er auch in der schriftlichen Propaganda tätig, die der Nachrichtenstelle für den Orient und somit letztlich dem Auswärtigen Amt in Berlin unterstand. In einem Schreiben an den deutschen Botschaftsrat Schubert in Bern beklagt sich Louis Hoffmann in Genf, er habe im Auftrag von Chatto und Hafiz, die er im August 1915 in Genf getroffen habe, etliche Schriften verfasst, aber das dafür versprochenen Honorar noch nicht erhalten. Die Schriften sind generell gegen England gerichtet und befassen sich nur in wenigen Teilen mit Indien.

Briess weist im Verhör darauf hin, dass Hafiz aus der Schweiz nicht nur indisch-nationalistische Propaganda betrieben, sondern auch beispielsweise die pro-deutsche, für Frankreich bestimmte Broschüre La Guerre qui vient organisiert und vertrieben habe.

Weiteres Leben

Nach dem Januar 1916 versiegen unsere Quellen zu Hafiz. Einzig bei Yusuf-Mohsin sind noch Angaben zu finden, jedoch lassen einige faktische Fehler eine gewisse Vorsicht gegenüber seinen weiteren Informationen angezeigt erscheinen.

Gemäss Yusuf-Mohsin soll Hafiz gegen Ende des Weltkriegs in einer Munitionsfabrik in Österreich als Chefchemiker gearbeitet haben, wo er auch seine Frau, die in Wien ansässige Aynmar Rishta Mahrun Nisa kennen lernte und heiratete.

Weiter soll der gestürzte osmanische General Cemal Pascha, beauftragt mit der Modernisierung der afghanischen Armee, Hafiz zwecks Baus einer Munitions- und Sprengstofffabrik 1920 nach Kabul beordert haben, was aber durch die Briten zunichte gemacht worden sei. Später habe er der Türkei Kemal Atatürks als Chefchemiker beim Aufbau einer Waffen- und Munitionsfabrik gedient.

Bis 1947 sei er Generaldirektor in der Türkei gewesen. 1948 habe er die Regierung des eben unabhängig gewordenen Pakistan kontaktiert, um die Gründung der Pakistan Ordnance Factory POF anzuregen. In diesem Zusammenhang beschreibt ihn Yusuf-Mohsin als grossen Patrioten und zitiert ihn mit den Worten: «During my 40 years abroad, I never once forgot that my motherland was under the British». Hafiz sei allerdings angesichts von Inkompetenz und veraltetem Denken in der POF unglücklich gewesen und 1957 (d.h. im Alter von rund 75 Jahren) zurückgetreten. 1964 sei er verarmt verstorben.

Quellen

  • Verhöre und Geständnis des Erwin Briess: Bundesarchiv Bern, E21#1000/131#14364* und folgende
  • Universitätsarchiv Leipzig
  • University Archive Birmingham
  • Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Berlin
  • Österreichisches Staatsarchiv Wien

Literatur