Der Kronzeuge Erwin Eduard Briess - 19. Juli 2020

Der Zürcher Bombenprozess vom Juni 1919 brachte ein seltsames Amalgam vor den Schranken des Bundesgerichts zusammen: die Agitation der deutschen Kriegsbehörden in der und durch die Schweiz, den antikolonialen Widerstand indischer und anderer Kreise gegen das britische Imperium, die Netzwerke der (vorwiegend) italienischen Anarchisten sowie russischer und schweizerischer Sozialisten, und schliesslich die deutschfreundliche Zürcher Polizei, welche in den unsicheren Tagen der deutschen Revolution ihre gesamte Energie gegen die “bolschewistische Gefahr” wandte.

Mitten in diesem Wirbelsturm stand Erwin Briess, Doktor der Philosophie, der als Spitzel für die britisch-indische Polizei unfreiwillig zum Zeugen der Anklage wurde. Briess war eine unauffällige Erscheinung mit einem Zwicker auf der Nase und adrett zur Seite gekämmtem hellem Haar. Er war gebürtig aus Prerau bei Olmütz, das in jenen Tagen gerade vom


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Erwin Briess 1929. Aus: Dr. Erwin Debries, Hollywood wie es wirklich ist, Zürich 1930, Bild 49 (Ausschnitt)

Habsburgerreich in die neu gebildete Tschechoslowakei überführt wurde. Als Briess etwa zwei Jahre alt war, hatte die Familie ihren Wohnsitz nach Zürich verlegt und war dort 1899 eingebürgert worden. Er hatte im Sommer 1912 in Wien das Studium der “Orientalischen Philosophie” mit der Dissertation abgeschlossen  und wandte er sich ein Jahr später – nach einigen zaghaften Versuchen, im Wissenschaftsbetrieb Fuss zu fassen – auf der Suche nach einer interessanten und Existenz sichernden Tätigkeit an den britischen Konsul Heinrich Angst in Zürich. Dieser vermittelte den jungen Indologen an die britisch-indische Polizei.

Paris und Genf

Sein erster Auftrag lautete, die sich in Paris versammelnde Gruppe der in Europa domizilierten “Seditionisten” auszukundschaften. Als Seditionisten wurden nach offiziellem britischem Sprachgebrauch die Verfechter einer indischen Unabhängigkeit – oder auch bloss einer weitgehenden Selbstverwaltung Indiens im Rahmen eines lockerer gefügten Empires – bezeichnet. Briess reiste mit diesem Auftrag nach Paris und traf dort viele wichtige Köpfe der Bewegung. Es gelang ihm aber nach eigenen Angaben nicht, an den Kongress der Antikolonialisten zugelassen zu werden. Ebenso war ihm der Zutritt zu einer gleichzeitig stattfindenden Versammlung internationaler Anarchisten verwehrt. Eine zentrale Bezugsperson der antikolonialen Bewegung in Paris, Shyamji Krishnavarma, verlegte im Frühjahr 1914 und damit gerade noch rechtzeitig vor dem Ausbruch des Grossen Krieges ihren Wohnsitz von Paris nach Genf. Briess erhielt von den Briten den Auftrag, seine Tätigkeit ebenfalls schwerpunktmässig nach Genf auszurichten.

Gleichzeitig war in Paris beschlossen worden, das seit 1912 existierende Komitee “Pro India” in Zürich zu stärken und neu auf die Zusammenarbeit mit Deutschland hin auszurichten. Zu diesem Zweck wurde das Komitee breiter aufgestellt und Briess zu seinem Vizepräsidenten ernannt. Er musste seine Tätigkeit für die britisch-indische Polizei natürlich geheim halten und entsprechend tarnen. Dazu diente ihm sein Interesse an Film und Kabarett, das ihn sein ganzes Leben begleitete. Er begann, für die ursprünglich von Karl Kraus herausgegebene Zeitschrift Artist zu schreiben, und berichtete darin über die Programmwechsel und Neueröffnungen diverser Kabaretts in Zürich. Wie alle seine journalistischen Versuche im Laufe seines Lebens endete auch diese Zusammenarbeit nach relativ kurzer Zeit: Nachweisen lassen sich Artikel zwischen Februar 1915 und Januar 1916, also genau während der Zeit, als Briess mit den Antikolonialisten Virendranath Chattopadhyaya (”Chatto”) und Abdul Hafis auf der einen sowie den Anarchisten Luigi Bertoni (Genf) und Arcangelo Cavadini (Zürich) auf der anderen Seite im Kontakt stand.

Das Jahr 1915

Im Lauf der ersten Jahreshälfte 1915 fanden mehrere Treffen zwischen Chatto, Hafis und Bertoni bei Anwesenheit von Briess statt. Im Juli 1915 wurde dieser von Hafis, einem Chemiker und Sprengmittelspezialisten, in die Übergabe von Sprengstoffen und Bakterienkulturen aus deutschen Beständen an Cavadini in Zürich einbezogen. Geplant waren sie zum Einsatz in Italien. Briess und Hafis brachten gemeinsam die von einem diplomatischen Kurier gelieferten Kisten in Briess’ Büro, wo sie kurzfristig aufbewahrt wurden, bevor Cavadini sie häppchenweise abholte. Es waren Materialien, mit denen in Italien eine «Propaganda der Tat» gegen die Kriegsbeteiligung organisiert werden sollte. Sie blieben aber in Zürich und wurden knapp drei Jahre später im April 1918 aus der Limmat gefischt, was schliesslich zum “Zürcher Bombenprozess” vom Juni 1919 führte.

Nach dem Fund der Sprengstoffe am 22. April 1918 wurde Briess fünf Tage später in Genf verhaftet und nach Zürich überstellt und neben Dutzenden von weiteren Untersuchungsgefangenen im neuen Bezirksgebäude festgehalten. Im Abstand einiger Tage musste er immer wieder dem Untersuchungsrichter Otto Heusser Red und Antwort stehen. Verhaftet vermutlich aufgrund der Aussagen Cavadinis (der sich in der Nacht vom 25. auf den 16. April im Untersuchungsgefängnis das Leben genommen hatte), leugnete Briess über Monate hartnäckig jedes Wissen um die untersuchten Sachverhalte und Zusammenhänge. Erst als sich der Kriegsverlauf dramatisch zu Ungunsten des Deutschen Reiches drehte und sich die Stimmung in der Deutschschweiz – und somit auch in der Zürcher Polizei – von Deutschland ab- und den USA zuwandte, wagte er den Schritt in die Rechtfertigung und gestand am 21. August 1918 seine Rolle als Spitzel für die Engländer. Heusser behielt ihn trotzdem bis Ende des Jahres in Untersuchungshaft. Er verhörte ihn noch mehrere Male und liess sich Briess’ Version der Geschichte immer wieder neu erzählen. Am 28. Dezember 1918 erst öffnete sich für Briess das Gefängnistor. Sein Gesuch um eine Entschädigung für die acht Monate Untersuchungshaft wies der Bundesanwalt als “Unverfrorenheit” zurück.

Briess’ Verrat seiner Agenten-Tätigkeit – in der Theorie eine Todsünde für einen Geheimdienstler – verschaffte ihm eine kurzzeitige Berühmtheit. In den Tagen des Prozesses im Juni 1919 berichtete die Weltpresse aus dem Zürcher Gerichtssaal, und als Briess zusammen mit einem Kollegen am späteren Abend des 6. Juni beim Verlassen der Gastwirtschaft an der Militärstrasse tätlich angegriffen wurde, war dies in London, New York und anderswo eine Zeitungsnotiz wert.

Artikel im Volksrecht

Diesem handgreiflichen Überfall war ein nicht sehr schmeichelhaftes Porträt des “Kronzeugen” im Zürcher Volksrecht, der vom späteren ersten SP-Bundesrat Ernst Nobs geführten sozialdemokratischen Zeitung, vorangegangen. Der Leitartikel ist nicht gezeichnet, also entweder von



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Die Karriere des Ernst Nobs. Nebelspalter 30. Dezember 1943. Schweizerische Nationalbibliothek.

Nobs selber verfasst oder aber von ihm gutgeheissen. Das Volksrecht zeichnet ein Bild von Briess, das auf der einen Seite sehr positiv ist: Briess sei ”ein Kerl von fabelhafter Gewandtheit und Anpassungsfähigkeit”, dessen “Vielsprachigkeit, sein gesellschaftlicher Schliff, seine Intelligenz und Behendigkeit” ihn zu einem “erstklassigen Qualitätsarbeiter” machten.

Dann aber macht sich das Volksrecht die im Krieg gewachsene Fremdenfeindlichkeit zu Nutze, um ihn mit zurechtgebogenen Auskünften anzuschwärzen: Er habe sich nach dem Doktorat “von einer Küste an die andere werfen lassen” und sei im Dienst der Engländer in Indien gestanden. “Allein wie der Weltkrieg kommt, wird die Schweiz (…) zu seinem eigentlichen Tätigkeitsgebiet (…).” Briess pflege seine Sachen praktisch anzupacken und sei deshalb Schweizerbürger geworden, um hier ungestört arbeiten zu können. Das Volksrecht suggeriert dabei, aufbauend auf einer falschen Information (Einsatz in Indien), eine falsche zeitliche Abfolge (zuerst Spitzel, dann Schweizer Bürger), um Briess – dessen Wohnadresse im Artikel ebenfalls erwähnt wird – in den Augen der Leserinnen und Leser zu diskreditieren.

Nach dem Bombenprozess stand Briess im September 1920 kurzzeitig im Dienst der Bundesanwaltschaft. Dass er, wie er selber im März 1921 der Genfer Polizei gegenüber angibt, auch für den Generalstab gearbeitet habe, lässt sich in den bisher bekannten Quellen nicht bestätigen. Ebenfalls muss offenbleiben, ob er im Oktober 1923, als er in Paris als Vertreter der rheinischen Unabhängigkeitsbewegung auftrat, noch immer in englischen Diensten stand.

Aus dem Tritt

Generell hat Briess nach dem triumphal-demütigenden Auftritt vor dem Bundesgericht im Juni 1919 vieles angefangen und wenig zustande gebracht. Er leitete um 1927 herum kurzzeitig das Kabarett Tabarin in Zürich. 1926 und 1928/29 reiste er drei Mal in die USA. Nach der dritten Reise veröffentlichte er das Büchlein Hollywood wie es wirklich ist (Zürich und Leizig 1930), welches bis heute in der Fachliteratur zitiert wird. Das dabei verwendete Pseudonym Erwin Debries diente ihm auch in seiner kurzzeitigen journalistischen Arbeit für den Ringier-Verlag Anfang der 1930er Jahre (L’Illustré), während er sich als Schweizer Korrespondent für das amerikanischen Magazin Variety etwas hochtrabend Prof. E.B.Rice nannte.

Nachdem er irgendwann in den 1920er Jahren aus dem Dienst für die Briten ausgeschieden war, versuchte sich Briess nicht nur als Journalist oder Kabarett-Leiter, sondern auch als Übersetzer, Kunsthändler und Verleger esoterischer Materialien. Dass er den Boden nicht mehr unter die Füsse bekam, bezeugen die vielen Anklagen wegen Betrugs, Hehlerei, Verbreitung unzüchtiger Schriften, aber auch Nachtlärm und Streit usw. Wenige Jahre vor seinem Tod musste er den Privatkonkurs anmelden, wobei er von seiner ersten Frau – er war zwei Mal für kurze Zeit verheiratet – beschuldigt wurde, Vermögenswerte verheimlicht zu haben. Für die Zürcher Polizei, die 1944 auf Gesuch der Bundesanwaltschaft hin ein Profil von ihm erstellte, war Briess inzwischen “eine mehr als zweifelhafte Existenz” geworden.

Quellen

Ich stütze mich für diesen Beitrag hauptsächlich auf folgende Materialien:

  • Archiv der Universität Wien, Akt PH RA 3431 Briess, Erwin Eduard
  • Harald Fischer-Tiné: Shyamji Krishnavarma. Sanskrit, Sociology and Anti-Imperialism. New Delhi, Milton Park 2014
  • Kantonsbibliothek AR, Trogen, CMO-55
  • Bundesarchiv Bern, E21#1000/131#14364* und folgende
  • Volksrecht Juni 1919
  • Staatsarchiv Kanton Zürich, Z.673.1172