Die tragische Figur des Chattopadhyaya - 8. Mai 2022

Wie ein schwer fassbarer Schatten begleitete die Figur des Virendranath «Chatto» Chattopadhyaya (1880-1937) die Gerichtsverhandlungen zum Zürcher Bombenprozess. Der indische Antikolonialist erhielt, wie der Richter am Bundesstrafgericht am 13. Juni 1919 abends um 5 Uhr vor dem neugierigen vielköpfigen Publikum im Zürcher Schwurgerichtssaal verkündete, die zweithöchste Strafe in diesem Prozess: zweieinhalb Jahre Zuchthaus und CHF 1’000 Busse. Chatto stand, wie der als Haupttäter verurteilte Abdul Hafiz, nicht persönlich vor den Schranken des Gerichts. Seit Ende 1915 war er mit einem Einreiseverbot für die Schweiz belegt, das weit über seinen Tod hinaus in Kraft bleiben sollte.

Karriereziel Kolonialbeamter

Geboren war er 39 Jahre zuvor in eine angesehene und einflussreiche Familie bengalischer Herkunft im südindischen Hyderabad. Bereits 1902 kam er nach London, um die Prüfung für den britischen Staatsdienst in Indien abzulegen. Grundsätzlich liess das britische Empire nur sehr wenige Inder zu diesem Dienst als Kolonialbeamte zu, und Chatto gelang der Eintritt trotz zweimaligen Versuchs nicht. Wie die meisten abgelehnten Inder wandte er sich der Juristerei zu, nebenbei verfasste er viele Artikel hauptsächlich zu linguistischen und philologischen Fragen. Eine politische Betätigung ist für jene Jahre nicht nachweisbar.

Von 1903 bis 1909 lebte er unverheiratet mit einer englischen Frau zusammen, wie der anglo-indische Geheimdienst später süffisant festhielt. Chatto wird als sehr klug und charmant beschrieben, er schlug offenbar immer wieder Frauen in seinen Bann. Diese gegenseitige Faszination führte ihn des Öfteren in verzwickte Situationen, die auch seinen weiteren Lebensweg beeinflussten.

In seinen Londoner Jahren wird Chatto auch als politische Stimme vernehmbar. Am 1. März 1909 druckt die Londoner Times seinen Leserbrief, in welchem er sich vehement gegen den Einsatz von Gewalt zur Befreiung Indiens ausspricht – und sich damit auch klar von Shyamji Krishnavarma distanziert. Doch am 1. Juli 1909 erschiesst ein junger indischer Student den führenden britischen Kolonialbeamten Sir William Hutt Curzon Wyllie. Das ist ein Fanal für die Radikalisierung der indischen Nationalisten, und gleichzeitig verstärkt die Londoner Polizei ihren Druck auf die Szene. Nach und nach setzen sich viele von ihnen nach Paris ab, im Juni 1910 auch Chatto.

Sozialist, Anarchist, Student

Bereits im September 1910 wird er Mitglied der Section française de l’Internationale ouvrière (SFIO), der französischen Sozialisten. Er verkehrt auch in anarchistischen Kreisen. Ob er gar Mitglieder der Bonnot-Bande kennen lernt, welche anarchistisch verbrämte, spektakuläre Raubüberfälle verüben, ist nicht nachzuweisen. Erwin Briess wird dies später vor dem Untersuchungsrichter behaupten. Aber ab dem Frühjahr 1911 ist Chatto für seine indischen Kollegen nicht mehr ansprechbar. Eine komplizierte Geschichte mit einer Frau beansprucht ihn vollständig.


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Virendranath Chattopadhyaya
Wikipedia Commons


Erst bei Kriegsbeginn im September 1914 hört man wieder von ihm. Er ist seit April jenes Jahres an der Universität Halle eingeschrieben, als Student der Philosophie, des Sanskrit und des Arabischen. Seit einigen Jahren gibt es in Deutschland eine Denkschule, welche einen gemeinsamen Aufstand der Muslime und Hindus in Indien imaginiert, womit England in Europa entscheidend zu schwächen wäre. Zudem hat die Indologie einen hohen Stellenwert im deutschen Geistes- und Universitätsleben. Beides wirkt anziehend für Inder, die das Ende des britischen Imperialismus in Indien herbeisehnen.

Pendeln zwischen Berlin und der Schweiz

Mit Kriegsbeginn gibt die deutsche Regierung Gelder frei für die Gründung der Nachrichtenstelle für den Orient (NfO), welche die deutsche Propaganda in Richtung der muslimischen Länder und Indiens organisiert und finanziert. Parallel dazu bildet sich das Indian Indepenence Committee, oft auch Berlin Indian Committee genannt, als formell unabhängige, jedoch vom Geld und Wohlwollen der deutschen Behörden abhängige Instanz zur Befreiung Indiens. Chatto ist einer der führenden Köpfe Komitees. Aus Zürich wird Chempakaraman Pillai nach Berlin geholt, aus den USA stösst unter anderem Abdul Hafiz dazu.

Chatto beginnt nun eine rege Reisetätigkeit zwischen Berlin, Zürich und Genf. Als neutrales Land mit einer anfänglich relativ lockeren Grenzkontrolle ist die Schweiz sowohl von Deutschland wie von Frankreich her gut zugänglich. Chatto trifft sich mehrmals mit dem in Petit-Lancy bei Genf lebenden Har Dayal, um ihn zu einem Umzug nach Berlin zu bewegen. Ebenfalls in Genf trifft er den kürzlich eingereisten Mahendra Pratap, der sich als indischer Adeliger ausgibt und im folgenden Jahr mit der deutsch-türkischen Niedermayer-Hentig-Mission nach Afghanistan unterwegs sein wird. Chatto organisiert Prataps Wechsel nach Berlin.

Kontakt mit Bertoni

Insgesamt acht Mal will Chatto zwischen November 1914 und November 1915 in die Schweiz gereist sein. Er trifft unter anderem, gemeinsam mit Briess und Hafiz, den Genfer Anarchisten Luigi Bertoni und spendet ihm für dessen Zeitschrift Le Reveil im Namen der Inder CHF 100 – was Bertoni, sehr zum Ärger Chattos, auch prompt in der Zeitung öffentlich verdankt.

Bertoni wird 1919 beim Zürcher Bombenprozess für den Untersuchungsrichter als Haupttäter gelten, jedoch vom Gericht freigesprochen. Als Haupttäter wird das Gericht die beiden Inder Abdul Hafiz und Virendranath «Chatto» Chattopadhyaya verurteilen, obwohl Chatto, im Gegensatz zu Hafiz, in den Akten nirgends in direkte Verbindung zu den Bomben gebracht wird. «Mitgegangen, mitgehangen» sagt der Volksmund in solchen Situationen.

Mindestens einmal braucht Chatto die Schweiz als Zwischenstation auf der Reise nach Konstantinopel, um seine Herkunft aus Deutschland zu verschleiern. Das war Ende Mai, Anfang Juni 1915. Er war zum Zeitpunkt des Sprengstoff-Transfers in die Schweiz im Juli 1915 (der dann zum Prozess von 1919 führte) weder hier noch in Berlin anwesend. Am 18. November 1915 wird er schliesslich in Zürich verhaftet, zusammen mit dem Engländer Donald Gullick.

Geschichten von Liebe und Verrat

Die Verhaftung der beiden durch die Zürcher Polizei geht auf eine verschachtelte Intrige zurück. Gullick erzählte dem Untersuchungsrichter eine Geschichte von Krankheit, Liebe, Hoffnung und Verrat. Er habe in einem Lungensanatorium in England eine Deutsche namens Annie Brand kennen gelernt, die in England mit einem Inder zusammengelebt und sich in einer antikolonialen Gruppe betätigt habe. Sie habe Vertrauen zu ihm gefasst und ihm gegenüber von ihrer klandestinen Arbeit in Absprache mit Chatto erzählt. Die ganze Gruppe in England, zu der auch die Zürcherin Meta Brunner gehörte, sei deshalb interniert worden. Er, Gullick, habe sich aber in die Annie Brand verliebt gehabt und erreicht, dass die Londoner Polizei ihm deren Freilassung versprochen habe, falls es ihm gelinge, Chatto über die Grenze nach Frankreich zu locken, wo man ihn verhaften könne. Er habe zu diesem Zweck einen Brief von Brand an Chatto bei sich gehabt.



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Polizeidienstliche Erkennungsphotos nach der Verhaftung in Zürich im November 1915. Quelle Bundesarchiv Bern

Chattos Version der Geschichte enthält andere Details. Etwa Anfang November – also vor der Einreise Gullicks in die Schweiz – habe er einen Brief von Meta Brunner erhalten, worin sie ihn gebeten habe, sie in Paris zu treffen. Aber die Brunner habe doch gewusst, dass er nicht nach Frankreich reisen könne. Deshalb sei es ihm verdächtig vorgekommen.

Beiden Versionen gemeinsam ist, dass die Londoner Polizeibehörden ihre Finger im Spiel gehabt haben müssen. Ohne deren Einwilligung hätte Gullick kaum den Kontakt zu Chatto gesucht, und erst recht hätte es keine Briefe junger Frauen – die nota bene beide von den britischen Behörden interniert waren – an Chatto gegeben.

Gullick gelang es also, Chatto mit der Aussicht auf Kontakte zu einer jungen Frau, sei es nun Annie Brand oder Meta Brunner, in die Schweiz zu locken. Was ihm nicht gelang: den Inder über die Grenze nach Frankreich zu bringen. Bei ihrem ersten Treffen, einem Spaziergang am Seeufer in Zürich, wurden die Beiden verhaftet.

Intrige

Wie aber kam es zur Verhaftung? Wer wusste vom Aufenthalt Chattos in Zürich? Wer konnte wissen, dass er hier einen Engländer treffen sollte? Nach Darstellung der Zürcher Polizei habe man ein Telegramm von Gullick an den französischen Grenzinspektor im Bahnhof von Bellegarde, an der Bahnlinie von Genf in Richtung Lyon oder Dijon gelegen, abgefangen und darauf Verdacht geschöpft. Wenn das zutrifft, so haben die Schweizer Polizeibehörden keinen Orden für besonders schnelle Aufklärung verdient: Am 8. November 1915 wurde das Telegramm in Zürich aufgegeben. Aufgrund einer Abschrift habe sich der zuständige Offizier der Schweizer Armee am 13. November in Zürich über den Verfasser erkundigt, worauf die Zürcher Polizei Gullick sowie seinen Begleiter Chatto am 18. November verhaftet habe.

Hatte Erwin Briess seine Hände mit im Spiel? Er hatte über den Sommer 1915 einen engen Kontakt mit Abdul Hafiz und anderen Exponenten der indischen und ägyptischen Antikolonialismus-Szene in der Schweiz. Er hat auch Chatto mehrmals getroffen, könnte also über dessen erneute Anwesenheit in Zürich im Bilde gewesen sein. Aber welches Interesse hätte er gehabt, Chatto zu verraten? Zwei Hypothesen stehen im Vordergrund, beide sind nicht zu beweisen und also reine Spekulation. Die erste hat eher mit Chatto zu tun: Briess war verliebt in Meta Brunner und wollte sich auf diese Weise an einem vermeintlichen Konkurrenten rächen. Offen bleibt in diesem Fall die Frage, warum er es ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt tat. Wusste er bereits, was der Familie Brunner in Zürich erst rund zwei Wochen später bekannt sein würde – dass nämlich Meta sei dem Sommer in England interniert war? Die zweite Hypothese: Die Londoner Polizeibehörden wollten Annie Brand auf keinen Fall aus der Internierung entlassen und wiesen deshalb Briess an, Gullick auffliegen zu lassen.

Waffen und Narkosemittel

Chatto berichtet dem Untersuchungsrichter, Gullick habe ihn gebeten, ihm einen Revolver und Chloroform zu beschaffen. Wenn man eine «Frauensperson» entführen wolle, sei es immer gut, solche Dinge bei sich zu haben. Später wird Chatto dies umdrehen und erzählen, Gullick habe Chloroform und einen Revolver bei sich gehabt, um ihn zu ermorden.

Chatto und Gullick entgingen einem Prozess vor Gericht. Die Schweizer Bundesbehörden erwogen kurz, den Briten einen Austausch von Gullick gegen Meta Brunner vorzuschlagen. Es kam nicht dazu. Chatto und Gullick wurden wegen verbotenen Nachrichtendienstes am 13. Dezember 1915 per Bundesratsbeschluss aus der Schweiz ausgewiesen. Chatto wird weit über seinen Tod hinaus – Stalin liess ihn 1937 in Moskau ermorden – auf der Fahndungsliste der Schweizer Polizei ausgeschrieben bleiben.

Mysteriöse Pressemeldung

Die Episode mit Chatto und Gullick fand ein kleines Echo in der Presse, das uns wie nebenbei einen Einblick in die Propaganda-Mechanismen erlaubt. Eine kurze Notiz in der Frankfurter Zeitung meldet am 13. Januar 1916 aus Rotterdam, das Hollandsche Nieuwe Bureau berichte aus Genf von einem politisch motivierten Mordversuch an einem «in der Schweiz wohnhaften Inder» durch den englischen Staatsangehörigen namens «Culloch», welcher verhaftet worden sei. Die Redaktion ergänzt die Kurzmeldung mit einem Satz in Klammern: «Soviel wir hören, handelt es sich in diesem Falle um einen Mordversuch aus politischen Motiven, bei dem Culloch nicht lediglich aus eigenem Antriebe gehandelt zu haben scheint.»

Bemerkenswert an dieser kurzen Meldung sind mehrere Aspekte: Die Verhaftung Gullicks («Culloch») erfolgte tatsächlich in Zürich, sie sei aber angeblich von Genf via Rotterdam nach Frankfurt gemeldet worden und erst hier in den Fokus der deutschen Behörden geraten. Dass das angebliche Opfer des «Mordversuchs» ebenfalls verhaftet wurde, findet keinen Eingang in die Nachricht. Zudem legt der redaktionelle Nachsatz nahe, dass der Redaktion weitere Informationen vorliegen, die aber aus welchen Gründen auch immer der Öffentlichkeit vorbehalten werden.

Der Schlüssel zu dieser etwas mysteriösen Kurznachricht findet sich in einem Schreiben des Sinologen Herbert Mueller von der NfO an deren Kontaktmann im Auswärtigen Amt, Otto-Günther von Wesendonk, vom 15. Mai 1916. Mueller beschreibt den Weg einer Nachricht, welche von der Presseabteilung des 18. Armeekorps als der Verbreitung im neutralen Ausland wünschenswert eingestuft wird. Sie werde der Vertreterin des holländischen Nieuwe Bureau in Frankfurt übermittelt. Dieses Büro gebe die Nachricht an die holländische Presse weiter. Die Presseabteilung des 18. Armeekorps in Frankfurt habe dem Nieuwe Bureau eigens einen separaten Telegrafendraht nach Holland eingerichtet, zur ungehinderten Weitergabe von Nachrichten. Die Meldungen seien möglichst neutral zu halten, sie könnten von irgendwo datiert sein. Die Verbindung zwischen den deutschen Militärbehörden und dem Nieuwe Bureau seien streng vertraulich zu behandeln. «Ich möchte mir erlauben, hinzuzufügen, dass dieser Weg von Herrn Major Warneke in einer uns angehenden Angelegenheit benutzt worden ist, indem er so die Schweizer Affäre Chattopadhyaya’s, ohne seinen Namen zu nennen, in die holländische Presse brachte.»

Trotz massiver deutscher Unterstützung, die vermutlich schon vor 1914 begann und mindestens bis zu seinem Wechsel nach Moskau in den frühen 1920er Jahren anhielt, blieb Chatto ein General ohne Armee. Unermüdlicher Organisator und kenntnisreicher Netzwerker, gelangte er trotzdem zu keinem nennenswerten Einfluss auf die Entwicklungen in Indien. Er verstrickte sich in die Intrigen der kommunistischen Weltbewegung und geriet immer wieder in scharfe Konkurrenz zu N.M.Roy. Schliesslich wurde sein Traum der Befreiung Indiens und der Würde der Inder von den Gewehrläufen eines Stalinschen Erschiessungskommandos weggeblasen.

Quellen

  • Bundesarchiv Bern, Dossier Virendranath Chattopadhyaya
  • Bundesarchiv Bern, Dossier Zürcher Bombenprozess
  • Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Berlin
  • The Times, London

Literatur

  • Barooah, Niroda (2004). Chatto. The Life and Times of an Indian Anti-Imperialist in Europe. New Delhi, New York: Oxford University Press.
  • Ker, James Campbell (1917, 20152). Political trouble in India, 1907-1917.
  • Krug, Samuel (2020). Die «Nachrichtenstelle für den Orient» im Kontext globaler Verflechtungen (1914-1921). Bielefeld: transcript Verlag.
  • Studer, Brigitte (2020). Reisende der Weltrevolution. Eine Globalgeschichte der Kommunistischen Internationale. Frankfurt./M.: Suhrkamp